

Frei 0
Auf einem einfallslosen, dunkelgrauen Hintergrund, ein aschgrauer Baum. Kein Blatt ziert dessen kahle Äste. Darunter ist in einer schnörkellosen, grünen Schrift zu lesen:
Frei 0
Update
Woche 1, Montag, Joris
In Joris’ Blick spiegelte sich eine Mischung aus Ungeduld und Irritation wider, wie er – auf der Kloschüssel sitzend – das ekelhaft mit verschmierten Fingerabdrücken übersäte Display seines Handys anstarrte. Dort, wo sonst sein täglicher Feed mit auf ihn zugeschnittenen News, seinen Terminen, Aufgaben und Erinnerungen aus vergangenen Tagen angezeigt werden sollte, erblickten seine geröteten Augen seit mehreren Minuten nur besagten, aschgrauen Baum.
Er war das Erste, was sich heute kurz nach dem Aufwachen in seine Netzhaut brannte. Der aschgraue Baum, welchen er noch sehr oft zu sehen bekommen sollte und mit welchem das Schicksal nun seinen Lauf zu nehmen begann.
Zu dem Zeitpunkt glaubte Joris noch, sein Telefon sei mal wieder beim Aktualisieren des Betriebssystems, ließ es auf der Glasplatte des Nachttischs liegen, stieg die metallene Wendeltreppe ins Erdgeschoss seines Hauses hinunter und bereitete sich dort in der offenen und bestens eingerichteten Küche entspannt sein Frühstück zu. Selbst beim Schlemmen desselbigen fehlte ihm das Gerät nicht sonderlich. Im Gegenteil: er genoss es überaus, sich ohne jede Ablenkung ganz den verschiedenen Aromen zu widmen. Der etwas bittere Kaffee, die etwas salzigen Croissants, auf welchen der Geschmack der Butter, seiner Meinung nach am besten zur Geltung kam. Die etwas saure Kirschmarmelade. Dann die etwas scharfe Wurst zusammen mit dem etwas zu rezenten Käse und zum Abschluss das definitiv viel zu süße Baklava. Nur gelegentlich schweiften seine Gedanken ab und er erinnerte sich an den Baum. Mehr in Vorfreude als in Sorge, denn Updates hatten was von Weihnachten: Sie bescherten meist spannende, neue Funktionen.
Wäre es ein normaler Morgen gewesen, ein Morgen ohne den aschgrauen Baum, dann hätten die kulinarischen Eindrücke unter den von intelligenten Algorithmen für ihn zusammengestellten Informationen über Architektur, Kultur, Politik und News aus dem In- und Ausland sowie einem Schuss Klatsch und Tratsch fundamental gelitten. Bemerkt hätte Joris dies kaum, da er abgelenkt durch die unzähligen Bilder, rasanten Videos und fragmentarischen Texte die Speisen unaufmerksam in seinen Mund geschoben hätte. Unbeachtet wären sie dort – einem Schredder ähnlich – zerhackt und anschließend auf ihre lange Reise durch den Verdauungstrakt geschickt worden. Dass es kein normaler Morgen zu werden schien, fing er noch mit dem letzten Bissen Baklava im Mund zu ahnen an, wie er den Laptop einschaltete und auch dort nichts anderes zu Gesicht bekam als den kahlen Baum: Frei 0. Damit war seine anfängliche Hoffnung, es handle sich um ein Update, passé. Weggeblasen die vorweihnachtliche Freude. Irgendetwas Verstörendes war im Gange und er hätte gerne nachgeforscht, ob andere Ähnliches berichteten, beziehungsweise Samira oder Klaus auf der Arbeit eine Nachricht gesendet. Nichts zu machen. Was ihm als Option blieb, war TV oder Radio. An ein nicht sonderlich wendiges Schiff erinnernd, manövrierte er um die Kochinsel in das sonnendurchflutete Wohnzimmer. Wenigstens schien das Wetter verheißungsvoller an diesem Morgen.
Beim Einschalten des Entertainmentsystems bestätigte sich seine dunkle Vorahnung: Auf dem gigantischen Schirm prangte ein monströser, aschgrauer Baum. Er wirkte bedrohlich in der gestochen scharfen Bilddichte des High-End-Displays. Kein Ton. Das Wechseln der Sender oder Umschalten auf das Radio war unmöglich. Es herrschte der Baum. Unbeeindruckt davon, welche Taste der Fernbedienung er wie oft betätigte. «Gäbe es doch noch terrestrisches Radio und Fernsehen!», dachte er genervt. Doch beides fiel schon vor Jahrzehnten der Digitalisierung anheim. Genau wie das Festnetztelefon, welches viele nur noch vom Hörensagen her kannten, das sich nun aber als wahrer Segen erwiesen hätte. In Joris Bauch rumorte es gefährlich. So hastig er konnte, stieg er die zwischen Wohnzimmer und Küche freistehende Treppe hoch, um das große Bad mit einem Zwischenhalt im Schlafzimmer, wo er sich das Handy schnappte, aufzusuchen.
Da saß er nun auf der Kloschüssel, starrte konsterniert auf das verschmierte Display und versuchte mit einer aufsteigenden Resignation das Gerät durch jegliche erdenkliche Tastenkombination der drei vorhandenen Drucktasten, Manipulation auf dem Display sowie verzweifeltes Anbeten und gutes Zureden in seinen normalen Betriebsmodus zu versetzen. Drücken, Schieben, Klopfen, Pochen, Hämmern, Flüstern, Bitten, Verfluchen, Anschreien: alles ohne Erfolg. Der Bildschirm präsentierte weiter nur den aschgrauen Baum, der ihn zu verhöhnen schien. Selbst wenn es ihm gelang, das Gerät durch langes Drücken des Einschaltknopfs neu zu starten, war alles, was ihn ein paar Sekunden später abermals narrte, besagter Baum. «Drauf geschissen, es gibt Wichtigeres», murmelte er und ließ seinen Worten Taten folgen.
Als er dem Frühstück auf diese Weise seinen Tribut gezollt sowie anschließend endlich das ekelerregend schmutzige Display gereinigt hatte, beschloss er, sich für die Arbeit herzurichten. Alsbald betrat er die geräumige Glasdusche und ließ von allen Seiten das erfrischende Nass auf sich prasseln. Joris fühlte sich dabei nicht wirklich wie «unter einem sanften, tropischen Wasserfall, sich von den Anspannungen des Tages erholend», auch wenn es der Prospekt so versprach. Aber entspannter als zuvor auf jeden Fall.
Kurze Zeit später saß er im bequemen Ledersitz seiner «Petite bêtise de Simiane», wie er sein Sonntagsauto liebevoll nannte. Eine Anlehnung an die ihm durch den Hersteller verliehene Farbbezeichnung. Dieser Jugendtraum, den er sich endlich erfüllte, als er Partner der Mehr-Raum-Architekten wurde, war in Zeiten, in welchen man sich vorwiegend ohne fossile Brennstoffe fortbewegte, eine nicht immer gern gesehene Abwechslung im gewohnten Straßenbild. Da musste man auch die eine oder andere Feindseligkeit gegen diesen eleganten, goldenen Luftverpester einstecken oder sich als Ausgleich dazu an vor Faszination glänzenden Kinderaugen erfreuen können.
Seine Freunde meinten damals «So ein Architekten-Ding». Unrecht hatten sie nicht, war doch der Citroën SM seit je her ein unter seiner Berufsgattung sehr begehrtes Auto. Ohne viel optischen Schnickschnack. Als er in den Siebzigern des vergangenen Jahrtausends auf den Markt kam, trumpfte er mit allerlei technischen Neuerungen auf, von denen die Konkurrenz damals nicht einmal träumte. Gegenwärtig fehlte es ihm im Vergleich zu den mobilen Rechenzentren, welche die Straßen befuhren, an rudimentären Basics. Dieses Manko entpuppte sich heute Morgen als große Qualität. Ein kurzer Test an seinem elektrischen Stadtflitzer – ein eleganter Einsitzer, nicht viel länger als Joris groß war – zeigte, dass sich auch dessen Funktion heute lediglich auf das Anzeigen des aschgrauen Baums auf dem Armaturenbrett beschränkte.
Der Oldtimer hingegen sprang zuverlässig an. Öl wurde in die Hydraulik-Zylinder der Federung gepumpt und die «Betise» erhob sich gleich einer Katze nach einer längeren Rast, zuerst vorn, dann hinten, zum Schluss nochmals vorn. Als die Nadel des Tourenzählers sich bei fünfhundert Umdrehungen pro Minute stabilisierte, setzte Joris die Seers auf, trat die Kupplung sanft durch und legte behutsam den ersten Gang ein. Das Garagentor war noch nicht vollends geöffnet, da brach das Inferno über ihn herein.
SCHWEIGSAME ENGEL
Woche 1, Montag, Samira
Die rote Bluse zur Hälfte zugeknöpft und unbeholfen in den Rock des grauen Business-Zweiteilers gesteckt, wobei eine Spitze des Oberteils aus dem Reißverschluss lugte – ähnlich einer rausgestreckten Zunge – auf einem schwarzen Lackpumps balancierend, in einer Hand den dampfenden Latte macchiato, in der anderen das Handy, so hinkte Samira durch den Flur der Altbauwohnung. Dabei wich sie gekonnt dem wie Tretminen auf dem Boden verteilten Krimskrams aus und suchte nach dem verflixten, zweiten Schuh.
In diesem Haushalt schienen dauernd Dinge abhandenzukommen, waren einfach nicht mehr da, wo sie diese hingelegt hatte. Dafür tauchten andere, längst abgeschriebene Habseligkeiten an den unmöglichsten Orten wieder auf. OK, meist dank Elizas Unterstützung. So fand sich erst jüngst eine Strumpfhose im Backofen wieder. Als sie ihre Tochter Linn zur Rede stellte, wie diese denn bitte schön in den Backofen gelangt sei, bemerkte diese stichelnd, wie Teenager eben so sind, dass es sich ja nicht um ihre, sondern um Samiras Strumpfhose handele.
Heute war also der zweite Pumps verschollen. Möglicherweise hatte ihn sich Linn ausgeliehen und danach nicht mehr in den Schuhschrank zurückgestellt. Obwohl sie im März gerade mal sechzehn wurde, zweiundzwanzig Jahre jünger als ihre Mutter, hatten sie beide schon exakt die gleichen Größen. Linn war ihr auch sonst sehr ähnlich: blond, hellblaue Augen, blass, schlank und rank. Ihre Mitschülerinnen nannten es eher flach und drahtig, denn zu ihrem großen Bedauern hatte sie auch den bescheidenen Brustumfang geerbt. Meilenweit entfernt von dem, was Jungs heute, geprägt durch die Medien, erwarteten und was Mädels, durch ambulante Eingriffe für wenig Geld, verwirklichen ließen.
«Die wachsen schon noch», versuchte Samira sie jeweils zu beruhigen.
Die Antwort ihrer schlagfertigen Tochter fiel meist gleich aus: «Mh-hmm, das sieht man ja bei dir. Wie lange wartest du schon vergeblich? Zwanzig Jahre?»
Aber auch in Linns Zimmer, welche um diese Zeit bereits mehr oder weniger aufmerksam die Schulbank drückte, war der Schuh nicht aufzuspüren. Sollte er in den Sog der Katakomben ihres elfjährigen Sohnes Jann geraten sein? Es wäre nicht das erste Mal, dass in seinem Kabuff längst Verschollenes wieder ans Tageslicht kam. Ähnlich den Gletschern, die weltweit abschmolzen und dabei Zeugen der Zeit freigegeben hatten, verhielt es sich auch mit Janns Zimmer. Also kämpfte sich Samira durch den Dschungel aus Kleidern, Spielsachen, Konstruktionen aus Lego und wunderlichen Dingen, die er auf der Straße fand. Als ihr etwas Schwarzes, Glänzendes unter einem achtlos auf den Boden geworfenen Shirt auffiel und sie, um besser danach greifen zu können, das Handy auf eine Kommode legte, sah sie auf dessen Display einen aschgrauen Baum.
Nicht ein Blatt schmückte die kahlen Äste und darunter stand etwas. «Eliza, gibt es ein Update?», fragte Samira mehr rhetorisch, denn im Augenblick war der Pumps wichtiger. Des Baums konnte sie sich später annehmen, sollte er wider Erwarten noch ihr zerkratztes Telefon schmücken. Das auffällige Schwarze entpuppte sich als eine ihrer Lackhandtaschen, welche sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte, dass diese gänzlich von ihrer mentalen Inventarliste verschwunden war. Erfreut über das kleine Geschenk, endlich etwas Positives an einem Montag, leerte sie den Inhalt der Tasche – bunte Steine – auf den Boden und balancierte hinkend aus dem Zimmer. Geistig bereitete sie sich schon auf den Anschiss, ob der lieblosen Behandlung seiner Kostbarkeiten durch ihren Jüngsten vor.
Samira hatte noch einen Moment Zeit, bis sie sich zusammen mit den anderen Pendlern aus dem Viertel Richtung Stadtzentrum fahren ließ und beschloss daher, den Latte endlich entspannt am Küchentisch zu genießen, anstatt Spuren desselben in der ganzen Wohnung zu hinterlassen. Sollte doch Eliza den Schuh für sie finden, das gehörte ja, nebst vielem anderem, auch zu ihren Aufgaben:
«Eliza, es ist mal wieder was verschollen. Fact. Hast Du meinen zweiten, schwarzen Pumps gesehen?»
Stille in der Wohnung. Ungewohnt. Auch außerhalb der Wohnung war es ungewohnt ruhig, wie Samira nun auffiel. Kaum Verkehrslärm drang durch die Fenster. Sie hob zu einem zweiten Versuch an:
«Du weißt schon, die, die ich vor drei Wochen gekauft hatte, für den Firmenanlass und danach … na diese Markendingens. Sauteuer. Fact. Jetzt schau doch mal!»
Wieder keine Antwort.
«Bist mir ja mal wieder ’ne große Hilfe heute», grummelte sie und vertagte geistig die Suche nach dem Schuh auf den Abend, falls sie es bis dahin nicht längst wieder vergessen hatte. Schließlich konnte sie ja mit Sneakers zur Arbeit gehen, außer es standen wichtige Sitzungen an. «Was für Termine habe ich heute?», rief sie in den Raum, welcher ihr die Antwort erneut schuldig blieb. Mittlerweile sichtlich genervt, griff sie nach dem Handy, drückte auf den Powerknopf und da stach ihr wieder nur dieser unattraktive, aschgraue, kahle Baum ins Auge. «Frei 0», stand auch noch da. Toll! Das Gerät ließ sich weder entsperren noch fand sie sonst einen Weg, den Baum loszuwerden. «Langes Update … und wohl nicht nur fürs Telefon. Fact. Sonst könnte ja Eliza wenigstens antworten. Wie soll ich jetzt wissen, was heute ansteht? Mein Gott, hoffentlich geht’s Jann und Linn gut. Die machen sich bestimmt auch Gedanken. Obwohl, während des Unterrichts ist ja eh nicht erlaubt. Die merken wohl gar nichts davon. Fact», murmelte sie nervös vor sich hin.
Dann blickte sie plötzlich, wie aus einem Traum erwacht auf das Infopanel des Kühlschranks, auf dem neben der aktuellen Temperatur, den enthaltenen Lebensmitteln, selbstredend wahlweise alphabetisch oder nach Verfallsdatum sortiert und eine auf ihre Gewohnheiten mit dem Bestand an Proviant abgeglichene Einkaufsliste doch auch die Uhrzeit angezeigt wurde. Diese war für Samira – nebst dem Kühlen – immer das einzig sinnvolle Feature. Mit dem anderen Chichi musste sie sich zum Glück nicht herumschlagen – auch dafür gab’s Eliza. Weder eine intelligente, elektronische noch eine altmodische, mechanische Armbanduhr, wie sie sich Leute mit viel Kohle gerne als Statussymbol umbanden, besaß Samira. Dafür ein Kühlschrank mit Zeitanzeige, die heute aber statt der erhofften Zeit auch nur diesen nervigen Baum präsentierte.
Ein Blick auf die Kuckucks-Uhr im Flur, eine der potthässlichen Beuten aus Janns Raubzügen, ermahnte sie, sich auf den Weg zu machen, wollte sie nicht wieder zu spät kommen. Wo genau Jann die Uhr entdeckt hatte, entzog sich Samiras Wissen, doch war sie das erste Mal erfreut darüber, zumindest diesen altmodischen, aber bestens funktionierenden Zeitmesser im Haus zu haben. Sie schlüpfte in die erstbesten Turnschuhe, welche sie fand, hoffend, dass wirklich keine wichtigen Termine anstanden. Dann schnappte sie sich ihre Handtasche, den Blazer und zog die Wohnungstüre mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss. Als Samira auf den Fahrstuhl wartete, knöpfte sie endlich auch die Bluse richtig zu, übersah dabei aber den neckischen Zipfel. Der Fahrstuhl brauchte ewig. Folglich blieb ihr noch Zeit, die Haare im spiegelnden Panel über dem Druckknopf zu richten. Unvermittelt fiel ihr auf, dass auch dort, hinter dem Spiegelbild ihres angespannten Gesichts, wieder nur der aschgraue Baum zu sehen war.
«Langsam beginnst du mich echt zu nerven, Fact», fluchte sie und polterte die Treppe hinunter.
POOL
Woche 3, Montag
Für einen Außenstehenden mochte das sich ihm bietende Bild einer gewissen Lächerlichkeit nicht entbehren: Ein Mann mit etwas zu viel Fett auf den Hüften, in eine etwas zu enge Badehose gepresst, um den nicht zu übersehenden Bauch ein Stoffgürtel geschnallt. Diesem wiederum an einer Wäscheleine befestigt, deren anderes Ende an der – sich am Beckenrand des Indoor-Pools positionierten – Sonnenliege festgezurrt war. Derart an die Leine gelegt, schwamm der Mann mit den Armen fuchtelnd an Ort und Stelle, prustete wie ein asthmatisches Walross jedes Mal, wenn er den Kopf hob, um aus- beziehungsweise einzuatmen.
Joris wusste sich eben zu helfen. Denn trotz des Tree-Drop und dem damit verbundenen Ausfall seiner Gegenstromanlage nutzte er das aufgezwungene Digital-Detox seit einigen Tagen für diese zugegebenermaßen außergewöhnliche Form der Frühgymnastik. Konnte ihn ja niemand dabei sehen. Aber mit etwas Glück würde das Resultat dieser Tortur bereits in ein paar Wochen den Damen der Schöpfung ins Auge fallen. Besonders einer, so seine im Geheimen gehegte Hoffnung.
Den Pool besaß er mittlerweile seit sieben Jahren, als er das Haus – oder die Joris-Mansion, wie seine Freunde es gerne nannten – nach erfolgreich überstandenem, verflixtem siebtem Ehejahr mit Gwen, bauen ließ. Genauso lange nahm er sich auch vor, darin Sport zu treiben, um seine über die Jahre etwas aus dem Leim geratene Figur wieder zu kitten. Dies gelang ihm ebenso wenig, wie das Kitten seiner Ehe und nach dem neunten Ehejahr verkam das Becken zu einem teuren, nahezu sinnlosen Schmuckstück. Von den nächtlichen Poolpartys mit kurzfristigen Eroberungen mal abgesehen. Das Schwimmbecken entpuppte sich als wahrer Magnet und machte wett, was Joris Körper verbockte. Die wenigsten seiner teuren Eskapaden konnten dem, durch ein paar Kristallgläschen Champagner befeuerten, spontanen Impuls widerstehen, sich ihrer Kleider zu entledigen und in reizvoller Spitze, die ganz Verwegenen gleich gänzlich nackt, in das einladend beleuchtete und sprudelnde Nass zu hüpfen.
Nachdem Gwen «Du hast nur noch Arbeit im Kopf» mit einem Musiker durchgebrannt war, brannten bei Joris die Sicherungen durch und er holte mit seinem extravaganten Lebensstil nach, was er in der Ehe verpasst zu haben glaubte. Mit viel gutem Essen, noch besserem und kostspieligem Wein und noch kostspieligeren Begleiterinnen, ließ er in allen angesagten Lokalen des Landes die Nacht zum Tag werden. Meistens, ohne für die charmante Gesellschaft direkt zu zahlen. «Aber irgendwie zahlte man doch immer», so sein Leitspruch. Da mal ein Geschenk, hier mal eine hohe, unvorhergesehene Rechnung, die er galant für die Dame unter der Hand übernahm. Wie auch immer man es auslegte, er konnte es sich leisten.
Da war einerseits der bestens florierende Mehr-Raum, andererseits hatte Joris sich in ‘B.U.’, dem angesagtesten Metaverse, einen Namen als exklusiver Architekt und Designer von Gebäuden, ja ganzen Städten im Auftrag renommierter Firmen geschaffen. Lange bevor Klaus ihn als Partner, wohl dereinst gar Nachfolger auserkoren hatte.
Was damals als Zeitvertreib bereits lange vor dem Studium begann, entwickelte sich über die Jahre zu einer äußerst lukrativen Einnahmequelle und seit er dieses Betätigungsfeld in das Architekturbüro integriert hatte, ließ die Auftragslage nichts mehr zu wünschen übrig. So gab es dann in Tat und Wahrheit bei Mehr-Raum-Architekten mittlerweile zwei unabhängige Bereiche. Das traditionelle Architekturbüro unter Klaus’ Führung und die Metaverse-Firma, selbstredend unter Joris Leitung. Das Spannende für die beiden ungleichen Freunde war die Tatsache, dass jeder nebst seinem Hauptbetätigungsfeld, dank einer unbelasteten, fast naiven Sichtweise auf die Tätigkeit des Partners, eine Bereicherung für das Feld des anderen darstellte. Eine der wichtigen Ingredienzen für den Erfolg des Unternehmens, welches jüngst eine Niederlassung in Shenzhen eröffnet hatte.
In den vergangenen Jahren nivellierte sich Joris Lebensstil und bewahrte ihn dementsprechend vor einer unweigerlichen Bruchlandung und Absturz seines Höhenfluges. Zu verdanken hatte er dies seinem Mentor Klaus. Als sein Professor erkannte er zwar das einzigartige Talent, aber auch die Gefahr der Fehlleitung des daraus resultierenden Erfolgs in einen unbewussten Lebensstil, voller unbefriedigender und daher stetig nach Steigerung lechzender Ablenkungen. Beherzt nahm er den eigensinnigen Studenten unter seine Fittiche. So wurde über die Jahre aus dem eigensinnigen Studenten ein ruhiger, besonnener, weiterhin äußerst kreativer Künstler, der immer noch durch kindliche Unbeschwertheit und Spontanität zu überraschen wusste. Die anderen, aber auch sich selbst wie just in diesem Augenblick mit seiner ‘Am-Ort-Schwimm-Idee’ oder der zuweilen irrationalen Affektion für seine Bêtise. In den vergangenen zwei Wochen, seit der graue Baum ins Weltgeschehen pfuschte, konnte er dieser Leidenschaft fast täglich frönen. Allerdings erklomm der Benzinpreis aufgrund der gestiegenen Nachfrage mittlerweile schwindelerregende Höhen, die Fahrt mit dem Citroën präsentierte sich folglich als ein snobistischer Luxus.
Die Kosten störten Joris erwartungsgemäß kaum. Der ungewollt überhebliche Eindruck, der diese Bequemlichkeit bei den Angestellten hinterließ – schon deutlich mehr. Doch wirklich störend war die Tatsache, dass die Anzahl gefahrener Kilometer von Verbrennern gesetzlich limitiert wurde. All dies ließ Joris an diesem Montag, als er ziemlich außer Puste, aber in seiner Wahrnehmung schon sichtbar gestraffter aus dem Wasser stieg, den Entschluss fassen, ein Latie zu werden. Ab sofort würde auch er erst nach dem Ende des Drops ins Büro fahren. Dazu bediente er sich seines elektrischen Stadtflitzers, ganz umweltbewusst und vernünftig.
Der mechanische Wecker, einer von zehn identischen Exemplaren, die sich Joris in der letzten Woche neu zugelegt hatte – der momentan meistverkaufte Artikel auf WeKnow: «Denk daran, wir schicken’s» – tickte auf der Küchentheke wacker vor sich hin. Kurz nach halb Zehn. Joris betrat den Raum, geduscht, rasiert, das füllige, dunkle Haar adrett gekämmt, mit frisch gebügelter Hose und Hemd. Hungrig wie ein Löwe riss er den Kühlschrank auf, griff nach der Butter und als er sich anschickte, auch seine geliebte Wurst herauszunehmen, vernahm er:
«Findest du nicht, dein Training wäre noch effizienter, wenn du auch deine Ernährung umstellen würdest?»
«Findest du nicht, dass ich dich nach deiner Meinung fragen würde, wenn sie mich interessierte, Marv», parierte er den verbalen Angriff seines Engels. «Sag mir lieber, ob mein Flitzer aufgeladen ist und wie lange ich aktuell ins Büro brauche.»
«War denn das E-Mobil jemals nicht aufgeladen, wenn du es benötigt hast?», fragte Marvs Stimme aus einem in die Decke der Küche eingelassenen Lautsprecher.
«Hast heute Nacht zu viel Sonnenstaub geschnüffelt? Da kannst du schon zwei Stunden länger schlafen und bist immer noch mies drauf», stichelte Joris.
«Ich bin nicht mies gelaunt, Emotionen sind ein Fluch oder Segen, welcher mir erspart bleibt, wie du eigentlich bestens weißt. Es ist einfach sehr ineffizient von dir, dich nach Selbstverständlichkeiten zu erkundigen. Was den Verkehr angeht: Was hilft es, wenn ich dir sage, dass du exakt fünfzehn Minuten brauchen wirst? Du selbst kennst die Strecke und ob du fünf Minuten früher oder später ankommen wirst, was ändert es am Lauf der Dinge. Ginge es nach dir, würdest du mir eine Zeit vorgeben für die Fahrt.»
Joris murmelte vor sich hin, dass er gerne mal in zehn Minuten im Büro wäre, dies aber selbst für den Allmächtigen an ein Wunder grenze. Verunsichert durch den neuen Habitus seines Engels, starrte er für Sekunden in den Kühlschrank, unfähig, sich für oder gegen die fettige Wurst zu entscheiden, die ihn frohlockend anlachte. Natürlich hatte Marv, der persönliche Handlanger des Allwissenden, recht. Er kannte alle seine Biowerte und daher wäre es unklug, seinen indirekten Gesundheitstipp leichtfertig zu ignorieren. Jedoch der Tonfall und diese ihm heute besonders anhaftende Arroganz, ließen in Joris den Widerstand aufkommen, einfach aus Prinzip nicht zu machen, was sicher gesünder wäre. Wer war denn hier der Herr im Haus? Was erlaubte sich dieses Quantenhirn? Demonstrativ griff er nach der Wurst und schnitt sich ein extra breites Stück ab.
«Na endlich», klang es prompt aus dem Lautsprecher über ihm. «Der Kühlschrank wurde 0,3 Grad wärmer aufgrund der Tatsache, dass die Tür so lange geöffnet blieb. Ihr Menschen seid so unentschlossen und leicht zu verunsichern. Statt einfach auf dein Inneres zu hören, welches nach Wurst schreit, lässt du dich von der kleinsten Bemerkung meinerseits aus dem Konzept bringen. Aber mach dir nichts daraus, du bist in guter Gesellschaft. 91,2% der Menschen handeln mittlerweile identisch. Ihr habt kaum noch einen eigenen Willen, habt den Draht zu euch selbst verloren und hört brav und gehorsam auf das, was euch mein Boss über einen seiner zahlreichen Kanäle direkt oder indirekt rät. Aber wehe, es ist zu eindeutig. Wehe, euer kleines Ego wird dabei verletzt und ihr bekommt das Gefühl, er würde euch bevormunden oder respektlos behandeln, dann wird es emotional. In diesem Fall entschließen sich 61% aus Prinzip, das Gegenteil der Ratschläge umzusetzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass du dich für die Wurst entschieden hast, weil du deinem Appetit gefolgt bist, berechne ich mit 23%. Die Wahrscheinlichkeit, dass es solch eine Trotzreaktion war: 77%. Lass es dir schmecken, was dir aber, menschlich wie du bist, nun nicht mehr gelingen wird. Du wirst in deinem Verstand immerzu darüber sinnieren, ob es nicht gesünder gewesen wäre, auf deinen lieben Marv zu hören. Ob diesem Nachdenken, wirst du dann die Wurst mit all ihren geschmacklichen Nuancen, wenn überhaupt, nur sehr vage wahrnehmen. Es könnte auch ein Stück Gummi sein, auf dem du herumkaust. Ihr Menschen seid von der Natur so reich beschenkt und honoriert dies so spärlich.»
Derart ermahnt, ertappte sich Joris in der Tat dabei, wie seine Zähne lustlos das Fleisch zerhackten, als wäre es ein Klumpen Lehm. Schlagartig entfaltete die korrelierende Bewusstseinsverlagerung, weg von den Gedanken, hin zur Wurst, ein Potpourri von Aromen in seinem Mund. Ganz wie damals, beim Frühstück bei der ersten Baumsichtung. Fast hätte er sich bei Marv dafür bedankt. Wie lächerlich, bestand dieser doch lediglich aus unzähligen Zeilen Programmcode.
«Ich vermute, du hättest auch gerne noch einen Kaffee und einen Überblick über die wichtigsten Ereignisse des Tages. Here we go», fuhr sein Engel fort und auf dem in die Küchenbar eingelassenen Bildschirm flackerte eine Liste der Schlagzeilen des Tages auf. Wie immer zugeschnitten auf Joris’ Themenwünsche und ohne störende Bilder, ganz nach seinem Gusto. Gleichzeitig erfüllte ein Rattern die Küche, die Getränkemaschine mahlte die Kaffeebohnen, gefolgt vom Zischen des heißen Wassers. Joris Blick schweifte zum Ausguss, aus dem nun der wunderbar duftende Kaffee floss. Leider ohne entsprechende Tasse darunter. Schnell schnappte er eine, schob sie in das braune, dampfende Rinnsal, wobei er sich das frische Hemd bekleckerte. Die Dankbarkeit war verflogen:
«Verdammt, Marv, was soll der Scheiß! Seit wann startet man die Kaffeemaschine, ohne zu kontrollieren, ob eine Tasse unter dem Ausguss steht? Zu viel Staub auf deiner Linse? Was ist bloß los mit der ganzen Technik?» reklamierte er.
Die Antwort folgte stehenden Fußes in einer ihn imitierenden Stimmlage: «Seit wann gibt man den Befehl für das Kochen eines Kaffees, bevor man die Tasse unter den Ausguss stellt? Was ist bloß los mit euch Menschen?»
Genervt stapfte Joris aus der Küche, der Appetit war ihm vergangen und ihm war mehr nach Schreien als Essen zumute.
Nicht viel später saß Joris mit neuem Hemd in seinem Stadtflitzer und ließ sich nahezu geräuschlos durch die Straßen chauffieren. Wie immer kurz nach der morgendlichen Rückkehr in die Normalität war die Stadt äußerst belebt, dennoch lief der Verkehr gewohnt reibungslos und zügig. Joris hatte den Eindruck, dass heute alles etwas schneller ablief als sonst, wohl eine Reaktion des Allmächtigen auf die zahlreichen Fahrzeuge und als Vorbeugung gegen Staus. Er war immer wieder aufs Neue beeindruckt, wie dieses Quantenhirn es fertigbrachte, dass es nie zu Staus oder Unfällen kam.
Hugo hatte ihm mal einen längeren Vortrag gehalten, dass dies just eine der Stärken dieser Art Computer sei. Er konnte – oder wollte – ihm schon nach wenigen Minuten nicht mehr folgen, nickte aber brav weiter und sagte «ja», «faszinierend» oder «wirklich?» im passenden Moment. So war das eigentlich meist, wenn man sich mit Samiras Typen unterhielt – zum Glück war das nicht sehr oft der Fall. Was Samira an dem fand, verstand Joris bis zum heutigen Tag nicht. Wäre er objektiv gewesen, dann hätte er zugeben müssen, dass Hugo intelligent, bestens situiert und wirklich sehr gutaussehend war. Bei den ersten beiden Punkten konnte er mithalten, obwohl er wohl eher kreativ als intelligent und sehr vermögend als bestens situiert war. Aber beim letzten und für die ebenfalls äußerst attraktive Samira sicher nicht unbedeutenden Punkt verlor er haushoch. Daran würde auch sein Poolgestrampel leider so bald nichts ändern. Nun, was interessierte es ihn? Samira und er waren beste Freunde, arbeiteten perfekt zusammen und mehr brauchte es nicht. Eine laute, sehr aufgeregte Stimme riss ihn abrupt aus seinen Überlegungen.
«Das ist nicht dein Ernst! Zu Fuß gehen? Egal, wie kurz der Weg ist, dafür sind die Publi-Cars da und wie ich dahin komme, hast du nicht zu entscheiden!»
Mehr konnte er nicht aufschnappen, da sein Fahrzeug schon an dem Mann mit dem hochroten Kopf vorbeigesaust war und Joris schlagartig auffiel, in welchem halsbrecherischen Tempo sein Gefährt über die Straße donnerte.
«Marv, sind wir nicht möglicherweise etwas zu schnell unterwegs?»
Keine Antwort. Die Zahlen im Tacho kletterten unbeirrt weiter in die Höhe, näherten sich dem dreistelligen Bereich. Ein prüfender Blick auf die Anzeige seines Kompagnons zeigte die üblichen News und Nachrichten, etwas überdurchschnittlich viele von Samira, aber nicht, wie er aufgrund des Verhaltens von Marv befürchtete, die unerwartete Rückkehr des Baumes. Erneut versuchte er sein Glück bei dem widerspenstigen Engel, diesmal etwas insistierender:
«Marv, wir fahren bald hundert Kilometer pro Stunde. Ist das noch erlaubt und bedeutend relevanter, hält das der Flitzer überhaupt aus?»
Der Elektromotor heulte mittlerweile nämlich beängstigend laut und verströmte jenen unverwechselbaren Geruch von elektrisch Angebranntem, der ihn unwillkürlich an den Sicherungskasten im Keller erinnerte. Wieder blieb eine Antwort aus. Joris wurde es zu bunt und kurz entschlossen drückte er das erste Mal, seit er den Stadtflitzer besaß, auf den Schalter für die Notbremse. Im Display erschien postwendend: «Stoppt sobald möglich».
Aber wie aus Hohn beschleunigte das Gefährt weiter.
Er fühlte, wie sein Puls sich ebenfalls beschleunigte, sein Magen fing an zu rumoren und in seinem Munde schmeckte er den ihm bestens vertrauten, metallischen Geschmack. Panikattacke im Anmarsch! Erneut betätigte er den Knopf: nichts. Dann hämmerten seine Finger auf den Knopf ein, gleich dem Schnabel eines Spechts gegen den Baum. Das Gefährt bewegte sich unbeeindruckt weiter. Joris war nun kurz davor, zu schreien. «Hilfe» oder «Stopp» oder sonst was, aber er beherrschte sich einmal mehr. Die sich anschleichende Angst versuchte er in den Griff zu bekommen, indem er sich einredete, dass sein Engel alles unter Kontrolle habe. Zweifellos würde er unbeschadet im Büro ankommen und die Anekdote zur Belustigung der Belegschaft bei einem Kaffee zum Besten geben. Schmerzlich vermisste er das Bremspedal seiner kleinen Betise, dort war man wenigstens Herr der Lage.
In diesem elektrischen Todesstern blieb einem nichts zu tun, als die Augen zu schließen und auf die Allmacht des Allmächtigen sowie die Robotergesetze zu vertrauen. Schon sah er wieder Hugo vor sich, der ihm diese ausführlich erläuterte. War es so weit, lief jetzt der sagenumwobene Film des Lebens vor seinem inneren Auge ab, bevor er gleich aus der nächsten Kurve getragen und an einer Hauswand zerschellen würde. Der erste tragische Unfall seit zig Jahren, er! Wenn dem so war, warum dann ausgerechnet mit Erinnerungen an Gespräche mit Hugo aus dem Leben katapultiert werden? Warum nicht mit etwas Erfreulicherem als diesem Schönling beim endlosen Referieren, derweil Samira ihn mit der Bewunderung eines treu blöden Hündchens für seinen Herren anhimmelte.
Dann schrie Joris doch.